Donnerstag, 2. Dezember 2010
Assange und Wikileaks
Allmählich hat das Geschehen um Wikileaks und seinen hauptsächlichen Vertreter, Julian Assange, alle Zutaten für einen Krimi.

War bei Wikileaks bis vor einem halben Jahr einiges Material verschiedenster Herkunft veröffentlicht, was kaum auf ein Medienecho stieß (das alte Zeug ist im Moment nicht auffindbar), gibt es seit etwa April 2010 dort eine Menge brisanten Materials zu sehen: Bei keinem der veröffentlichten Materialien wird deren Echtheit bezweifelt. Umso heftiger bläst dem "Gesicht" von Wikileaks, Julian Assange, der Wind ins Gesicht.
...Tom Flanagan. Der Berater des kanadischen Premierministers hat Assange am Dienstag in einem Interview mit dem Fernsehsender CBC gewissermaßen für vogelfrei erklärt. O-Ton: „Ich wäre nicht unglücklich, wenn er verschwinden würde.“...
(Quelle: Hamburger Abendblatt)
Gegen Julian Assange laufen mehrere Ermittlungsverfahren: In den USA geht es um die Beschaffung und Verbreitung von geheimen Dokumenten, in Schweden um Vergewaltigung und sexuelle Belästigung (vgl. Wikipedia zu Assange).

Der Vorwurf von Geheimnisverrat leuchtet unmittelbar ein, das Ermittlungsverfahren wegen Vergewaltigung und sexueller Belästigung/Nötigung in Schweden klingt stark nach schmutziger Wäsche, die da an die Öffentlichkeit gezerrt wird.
Anklägerin Marianne Ny erklärte, sie habe für Assange in Abwesenheit einen Haftbefehl wegen Vergewaltigung, sexueller Belästigung und Nötigung beantragt. Sie begründete ihre Entscheidung damit, dass die Ermittler den 39-Jährigen zu den Vorwürfen befragen müssten. "Bisher konnten wir ihn nicht treffen, um die Vernehmungen abzuschließen", sagte die Anklägerin.

...

Bereits im August war ein Haftbefehl erlassen worden, der aber kurz darauf wieder aufgehoben wurde. Es gebe zu wenig Verdachtsmomente, hieß es damals. Die Ermittlungen wurden aber weitergeführt....

Mark Stephens, ein Anwalt Assanges, zeigte sich am Donnerstag besorgt über den Schritt der Staatsanwaltschaft. Er betonte, die beiden Klägerinnen hätten nach eigener Aussage einvernehmlichen Sex mit seinem Klienten gehabt. Sie hätten ihn erst beschuldigt, als sich herausstellte, dass der Mann mit beiden Frauen sexuelle Kontakte gehabt habe. Zudem habe Assange den schwedischen Justizbehörden wiederholt angeboten, zu den Vorwürfen befragt zu werden, auch unter Eid, betonte der Anwalt....
(Quelle: Die Presse.com)
Das klingt doch sehr nach einem Verfahren a la Kachelmann ("Vergewaltigung oder einvernehmlicher Sex" mit der Konnotation, dass der Vergewaltigungsvorwurf in dem Moment erhoben wird, in dem die Frau feststellt, dass der Mann auch noch andere sexuelle Kontakte hat).

In jedem Fall ist das Sexualverhalten von Assange für die geleakten Fakten unerheblich. Die Filmdokumente über die Morde im Irak sind eben das, was man sieht: zynische Kriegshandlungen.

Die Veröffentlichung von geheimen diplomatischen Depeschen ist auch das, was man sieht: Klatsch und Tratsch aus den jeweiligen Ländern der Botschaften. So ist "Teflon"-Merkel nicht etwa eine eigenständige Beobachtung des US-Botschafters, sondern nur ein Beleg dafür, dass er hiesige Zeitungen gelesen hat.

Fazit:
Einerseits hat Wikileaks unstreitig ein paar echte Schweinereien aufgedeckt und darüber hinaus dokumentiert, dass die Datensicherheit der US-Administration ziemlich schlecht ist.

Andererseits hat Julian Assange ein echtes oder auch nur angebliches Sexualverbrechen begangen. Kachelmann analog.

Zum echten Krimi wird es dann, wenn man einerseits und andererseits miteinander verknüpft: Um das Aufdecken von Fehlverhalten in Zukunft zu unterbinden, bringt man den Chef von Wikileaks in ein schlechtes Licht, fährt dDoS-Angriffe auf deren Server oder veranlasst Firmen wie Amazon, die Wikileaks-Daten nicht mehr zu hosten.

update 3.12.2010
Die Überschrift "Amazon bestreitet politischen Druck wegen Wikileaks" klingt nach einem langweiligen Dementi. Das glaubt sowieso niemand.

Der Artikel ist dennoch lesenswert: man findet dort die IP-Adressen, unter denen Wikileaks erreichbar ist, wenn die Namensauflösung von "wikileaks.org" blockiert ist.
Zumindest die Startseite und einige Unterseiten erreicht man über die IP-Adresse 46.59.1.2 . Über die IP-Adresse 213.251.145.96 bzw. unter wikileaks.ch sind auch die Unterseiten zu den veröffentlichten US-Diplomaten-Depeschen und das "War Diary" zum Irak und zu Afghanistan erreichbar. Die Website zu dem geleakten Irak-Video ist ebenfalls noch online.
(Quelle: heise.de)
Und wo der Heise-Effekt zuschlägt, hat Wikileaks auch getwittert:
WIKILEAKS: Free speech has a number: http://88.80.13.160/
(Quelle: 213.251.145.96)
Lesenswert außerdem der Artikel zu den theoretischen Hintergründen ("Krypto-Anarchie") der Aktionen von Julian Assange aus den 90er Jahren:
Diese Philosophie, die in der Hackerszene der achtziger Jahre ihren Ursprung hat, läuft auf ein "anarcho-kapitalistisches Marktsystem" hinaus. So erklärt es der Informatiker Timothy C. May. May ist der Verfasser des "Krypto-anarchistischen Manifests" und der programmatischen Schrift "Cyphernomicon". Er ließ sich von radikal-libertären Denkern wie Ayn Rand und Milton Friedman inspirieren. Zudem begründete er die krypto-anarchistische Mailingliste Cypherpunks.

Der Krypto-Anarchismus postuliert, dass eine Asymmetrie zwischen dem Staat, der einen möglichst großen Teil der Kommunikation seiner Bürger zu überwachen versucht, und eben diesen Bürgern besteht, gegenüber denen der Staat vieles geheim halte. Die technische Revolution des Cyberspace könne diese Verhältnisse nun umkehren. Alle privaten Informationen könnten und sollten mit kryptographischen Mitteln geheim gehalten werden. Der Staat wäre zur Unterdrückung des Einzelnen dann nicht mehr in der Lage. Und müsste sich in eine "Enklave der Dinge-die-er-kontrollieren-kann" zurückziehen, wie es May bei den Cypherpunks formuliert hat.

Der umgekehrte Ansatz, um das gleiche Ziel zu erreichen, wäre die radikale Veröffentlichung des Herrschaftswissens.
(Quelle: Süddeutsche.de)
Das macht Wikileaks etwas verständlicher. Man darf gespannt sein, ob es funktioniert.

Update 2
Da hätte man auch von selbst drauf kommen können: der Google-Cache enthält natürlich auch die Infos der inzwischen nicht erreichbaren Wikileaks-Seite.

Die Versuche, Wikileaks zu unterdrücken, erinnern an den "Streisand-Effekt". Wer auch immer da agiert, erreicht offenbar das Gegenteil: das Netz reagiert mit erhöhter Aufmerksamkeit.

Update 04.12.2010
Der Furor geht weiter.
Die Tochter der Handelsplattform eBay teilte auf ihrer Blogseite thepaypalblog.com mit, wegen einer "Verletzung der Nutzungsbedingungen" sei das von Wikileaks genutzte Konto dauerhaft gesperrt worden. Paypal schließe die Benutzung seiner Dienste aus, wenn dadurch "illegale Aktivitäten" gefördert werden.
(Quelle: Heise.de)
Andernorts ist wohl sehr viel weniger Schaum vor dem Mund:
Der Independet berichtet, dass Scotlad Yard schon seit Wochen in Kontakt mit den Anwälten von Assange steht und eine Telefonnummer von ihm selbst besitzt, aber mit der Festnahme noch wartet. Mark Stephens, sein Anwalt, sagt überdies, Assange würde sich gar nicht verstecken. ...
(Quelle: Telepolis)
Offenbar geht es auch anders als Tom Flanagan (Kanada) gesagt hat.

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