Mittwoch, 20. Dezember 2006
Was man so singt: Lieder
Wer mal im Ausland war, kennt die Bitte der Gastgeber: "sing doch mal was Deutsches". Und für den Durchschnittsdeutschen (zumindest jenseits des 30. Lebensjahrs) ist das ein Problem in mehrfacher Hinsicht. Zum einen singen viele nur noch sehr selten, ungern und deshalb meist auch schlecht.

Zum andern ergibt sich dann die ziemlich deutsche Frage, was man als typisch deutsches Lied singen könnte.

Was immer geht, ist deutsche Romantik "Ich weiß nicht, was soll es bedeuten" - anspruchsvoll, schwierig vom Sentiment her und dann die Strophen 2 bis wieviel? Alternativ "Sabinchen war ein Frauenzimmer" - der Dienstmädchen-Hit des 19. Jahrhunderts? Dummerweise haben diese Bänkellieder auch wieder so viel Text.

Dann gibt es Lieder, die mag man einfach und vergisst sie nie, zum Beispiel Lieder, die man als Kind und Jugendlicher gehört und/oder gesungen hat. Irgendwann hat man allerdings die Entdeckung gemacht, dass bestimmte Lieder von der "Bildfläche" verschwinden.

"Zehn kleine Negerlein" zum Beispiel war ein ziemlich putziges Kinderlied, weil die "Neger" in dem Lied auf skurrile Art und Weise verschwanden. Der Link zu dem Text ist zwar nicht das, was der Autor seinerzeit gesungen hat, aber auch nicht besser. Schon wegen der Neger ist das Lied sowas von politisch inkorrekt, dass man es heute mit Anstand seinen Kindern nicht mehr vorsingen mag, wenn man nicht empörte Anrufe der Kindergärtnerin riskieren will. Allerdings gibt es eine irgendwie koffeinfrei wirkende Ersatzfassung: "Zehn kleine Zappelmänner". Bemerkenswert ist, dass die "Negerlein" trotzdem nicht totzukriegen sind: Die Großelterngeneration (die sind heute 75 und älter) haben den Verlust kindlichen/jugendlichen Liedguts noch ganz anders erlebt: Die Lieder, die die Großeltern als Kinder und Jugendliche in HJ und BDM mit der gleichen Inbrunst geschmettert haben wie der Autor immer wieder 10 kleine Negerlein sterben ließ, stehen heute auf dem Index verbotenen Liedguts bzw. gelten als Nazi-Symbole wie z.B. "Es zittern die morschen Knochen" (Hans Baumann), von "Die Fahne hoch, die Reihen festgeschlossen" (Horst Wessel, mehr dazu bei Wikipedia) ganz zu schweigen.

Von seinen Eltern hat der Autor daher jenseits der Kinderlieder keine Lieder mehr gelernt - die Eltern sangen nicht, ausgenommen an Weihnachten. Der gymnasiale Musikunterricht griff auf Liedgut der Studentenbewegung aus 1830 bis 1848 ("Die Gedanken sind frei") oder der Wandervogelbewegung ("Ein Heller und ein Batzen") zurück. Und auf Klassenfahrten lag man vor Madagaskar und hatte die Pest an Bord. Und als die damals 15-Jährigen fanden, dass die Römer frech geworden, sangen die Lehrer schon nicht mehr mit (oder nur einmal, nach dem vierten Rotwein). Italien war schließlich Urlaubsziel, Mitgründer der "EWG" (so hieß früher die EU) und überhaupt war die Germanentümelei ziemlich uncool.

In Zeiten der Oberstufe und während des Studiums war natürlich Bob Dylan was für die, die sich des Englischen mächtig fühlten, Hannes Wader für die andern. Aber "the times, they are a-changing" ist nichts zum Grölen und "Heute hier, morgen dort" oder Franz Degenhardts "Spiel nicht mit den Schmuddelkindern" haben einfach zu komplizierte Texte und Botschaften und wurden daher zwar vielfach angestimmt, machten aber keine echte Stimmung.

Der Bruch in der deutschen Liedkultur nach 1945 ist nur mit Mühe zu flicken. Eine Konstante ist "das Kirchenlied" - immerhin etwas. "Großer Gott, wir loben Dich" und "Fest soll mein Taufbund immer stehen": mit einem Organisten, der sein Geld wert ist, ist das eine todsichere Sache: Das kann fast jeder singen, das rockt.

Allerdings ist auch da nicht alles wirklich konstant. So hat irgendein Konzil/Synode/Profi-Priester-Treffen den Text von "Fest soll mein Taufbund immer stehen" geändert, weil's da an einigen Stellen arg untertänig und unterwürfig klang.

Kirchenlieder sind allerdings nur bedingt fetentauglich. Aber es gibt etwas Neues: Bei Feten und Parties klingt jenseits der 0,8 Promille-Grenze Drafi Deutschers "Marmor Stein und Eisen brechen bricht" an. Die Alt-68er hätten lieber auf Bier, Wein und Joint verzichtet, als diese Schnulze anzustimmen. Ist heute aber kein Problem mehr - alle singen mit.

Eigentümlicher Weise ist das aus gleicher Zeit stammende "100 Mann und ein Befehl" (Freddy Quinn) mehr oder weniger in Vergessenheit geraten, womöglich aus der Sorge, dass es was mit "Landserseeligkeit" zu tun haben könnte. (Hat es aber nur dann, wenn man die "Green Berets" zu den Landsern rechnet - lt. Wikipedia stammt das Original "The Ballad of the Green Berets" von Sgt. Barry Sadler).

Ähnlich erfolgreich in der aktuellen Gröhl-Szene wie "Marmor Stein und Eisen" sind "Wahnsinn" (Wolfgang Petry), "99 Luftballons" (Nena), "Mer losse de Dom in Kölle" (Bläck Fööss), "Er gehört zu mir" (Marianne Rosenberg) und dergleichen mehr.


Vermutlich klingt das in 30 Jahren schon mindestens so alt wie Die Gedanken sind frei", das nach jetzt mehr als 100 Jahren immer noch ziemlich frisch daher kommt.

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