Montag, 16. Juni 2008
EU-Verfassung - die Dritte
Wie oft muss Europa eigentlich seine Fehler wiederholen, bis man daraus lernt?

Die EU besteht aus derzeit 27 Mitgliedstaaten. SIEBENUNDZWANZIG . Darin wohnen 485 Millionen Menschen. Jede Lernerfahrung braucht hier also eine Menge an Überzeugungsarbeit.

Eine politische Organisation mit so vielen Menschen braucht aber vor allem ein stabiles Fundament. Sollte man meinen. Meinen auch die Politiker und haben eine Verfassung ausgearbeitet. Die war am Votum von Franzosen und Holländern gescheitert.

Daraufhin arbeiten die Politiker den Vertrag von Lissabon (Stand Dezember 2007) aus. Der beginnt nach 11 Seiten Vorspruch so:
ÄNDERUNGEN DES VERTRAGS ÜBER DIE EUROPÄISCHE UNION UND DES VERTRAGS
ZUR GRÜNDUNG DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFT
ARTIKEL 1
Der Vertrag über die Europäische Union wird nach Maßgabe dieses Artikels geändert.
1) Die Präambel wird wie folgt geändert:
a) Folgender Wortlaut wird als zweiter Erwägungsgrund eingefügt:
"SCHÖPFEND aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben,".
b) Im siebten Erwägungsgrund, der achter Erwägungsgrund wird, werden die Worte "mit diesem Vertrag" durch die Worte "mit diesem Vertrag und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union" ersetzt.
c) Im elften Erwägungsgrund, der zwölfter Erwägungsgrund wird, werden die Worte "dieses Vertrags" durch die Worte "dieses Vertrags und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union" ersetzt. ..."
(Quelle:Vertrag von Lissabon)
Es folgen noch weitere 276 Seiten. Nett, wie sorgfältig die Reihenfolge der Erwägungsgründe hier eingangs umnummeriert ist - ein Musterbeispiel für Verständlichkeit ist das allerdings nicht. Das wäre bei EU-Texten aber auch eine Überraschung.

Aber es gibt auch (verständliche) Regelungen mit Gehalt und Gewicht, leider dem falschen Gehalt und Gewicht:
"ARTIKEL 9c
(1) Der Rat wird gemeinsam mit dem Europäischen Parlament als Gesetzgeber tätig und übt gemeinsam mit ihm die Haushaltsbefugnisse aus. ...
(Quelle:Vertrag von Lissabon)
Hier gibt es von der Formulierung her nichts auszusetzen. Aber! Was steht denn da tatsächlich? "Der Rat und das Parlament gemeinsam ...". Parlament versteht man, aber "Rat"? Wer nicht sofort versteht, was der "Rat" ist, dem geht es ähnlich wie dem Autor.
"Der Rat der Europäischen Union (umgangssprachlich (EU-)Ministerrat, laut Vertragstext einfach Rat) ist das wichtigste Entscheidungsorgan der Europäischen Gemeinschaft....
Seine Mitglieder (Minister) sind in ihren Mitgliedsstaaten aber Teil der Exekutive (der nationalen Regierungen). Dies ist ein Beispiel für Exekutivföderalismus. Kritiker sehen darin jedoch einen Widerspruch zum Prinzip der Gewaltenteilung und einen Grund für die empfundene Bürokratie und mangelnde Volksnähe bzw. das Demokratiedefizit der EU.

...Der Rat ist ein einheitliches Organ, tritt aber aufgrund der unterschiedlichen Politikbereiche in unterschiedlichen Formationen zusammen. Seit 2002 sind dies die folgenden:
  • Allgemeiner Rat und Außenbeziehungen (engl. GAERC)
  • Rat für Wirtschaft und Finanzen (Ecofin)
  • Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres
  • Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz (BeSoGeKo)
  • Rat für Wettbewerbsfähigkeit
  • Umwelt
  • Bildung, Jugend und Kultur
  • Verkehr, Telekommunikation und Energie
  • Landwirtschaft und Fischerei
(Quelle: Wikipedia zu Rat der Europäischen Union)
Der "Rat" hat offenbar gewisse Ähnlichkeiten mit der Dreifaltigkeit: er ist eine Einheit, aber es gibt ihn in 8 Ausfaltungen. Ach ja, und Gesetzgebung und Budgetrecht macht er auch noch. Erinnern wir uns doch mal an die Grundzüge der Staatsbürgerkunde:
In demokratischen Staaten übt das Parlament außer der Gesetzgebung auch das Budgetrecht und die Kontrolle der Regierung aus.
(Quelle: Wikipedia zu Parlament)
Das Parlament! Und nicht etwa ein Rat aus Regierungsmitgliedern.

Demokratie in Europa sieht nun derzeit also so aus: 26 Staaten von 27 Staaten verzichten (aus Angst vor dem Wähler?) auf eine Volksabstimmung über den Lissabon-Vertrag und lassen in ihren Parlamenten abstimmen.

Allein die Iren lassen abstimmen, aber nicht etwa, weil sie demokratischer gesinnt sind als der Rest, sondern weil es dort vorgeschrieben ist, dass über jede Änderung von EU-Verträgen per Volksabstimmung zu entscheiden ist.

Fazit: Eine notwendige, wenn auch ziemlich verkorkste Reform wird von ca. 1.5 Millionen Wählern bewertet und mit einer Mehrheit von 110.000 Wählern abgelehnt.

Demokratie sieht eigentlich anders aus: entweder alle Wahlberechtigten (von 485 Millionen Menschen) stimmen ab. Wenn dann das gleiche Ergebnis eintritt wie jetzt, hätte es wenigstens den Vorteil, dass eine Mehrheit es so gewollt hätte. Oder man macht sich die Vorteile der repräsentativen Demokratie zu eigen und lässt gewählte Vertreter wie zum Beispiel das Europäische Parlament abstimmen.

So aber ist das alles Murks:
Der Vertrag ist Murks: Schon vom Wortlaut her ist er ungeeignet, ihn zum Gegenstand einer Volksabstimmung zu machen. Erwägungsgründe muss man sicherlich sorgfältig auflisten, aber wenn man die Änderung der Reihenfolge, die sich durch das Einfügen eines Erwägungsgrundes zwangsläufig ergibt, dann noch vertraglich bestätigen muss, ist was grundsätzlich faul.
Das Verfahren ist Murks: Eine Minderheit von jetzt letztlich 110.000 Menschen kann eine eigentlich notwendige Reform blockieren. Demokratie geht anders, siehe oben.
Das Ergebnis ist Murks: Es ist nämlich ein fauler Kompromiss zwischen einem überstaatlichen Konglomerat und pseudo-demokratischen Prozeduren.

Und was meint die französische und die deutsche Staatsführung zu dem Debakel:
Gemeinsame Presseerklärung von Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy zum Ausgang des irischen Referendums über den Vertrag von Lissabon vom 12. Juni 2008
...Der irische Ministerpräsident hat uns über die Ergebnisse des Referendums informiert und wir erwarten, dass er die genauen Ursachen der Ablehnung des Vertrags durch die irische Bevölkerung beim Europäischen Rat am 19. und 20. Juni 2008 erläutert. Der Europäische Rat wird daraus die nötigen Schlüsse ziehen.

Die Staats- und Regierungschefs aller 27 Mitgliedstaaten haben den Vertrag von Lissabon unterzeichnet, und in 18 Mitgliedstaaten ist die Ratifizierung bereits abgeschlossen. Wir erwarten daher, dass die anderen Mitgliedstaaten ihre innerstaatlichen Ratifizierungsverfahren weiterführen.
(Quelle: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
PRESSEMITTEILUNG NR.: 213
)
Die neue alte europäische Perspektive heißt: "Weiter so"! Armes Europa.

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Donnerstag, 12. Juni 2008
Unentgeltlich
Noch ein Fehler ?:
"1. Der Gesetzgeber ist im Grundsatz durch Art. 59 HV nicht gehindert, eine allgemeine Beitragspflicht einzuführen. Das Studienbeitragsgesetz unterwirft das Studium in allen Studiengängen an hessischen hochschulen der Grundstudienbeitragspflicht. Diese allgemeine Beitragspflicht ist unter Berücksichtigung des in § 7 HStubeiG verankerten Darlehensanspruchs sowie der in § 8 HStubeiG geregelten Rückzahlungsbedingungen von dem Gesetzesvorbehalt in Art. 59 Abs. 1 Satz 4 HV gedeckt....
(Quelle: Staatsgerichtshof Hessen S. 81 des Urteils vom 11.6.2008)
Das ist ein bisschen umständlich formuliert. Doch dazu gleich. Lesen wir zuerst einmal Art. 59 der hessischen Verfassung:
Art: 59
Unterrichtsgeldfreiheit

(1) In allen öffentlichen Grund-, Mittel-, höheren und Hochschulen ist der Unterricht unentgeltlich. Unentgeltlich sind auch die Lernmittel mit Ausnahme der an den Hochschulen gebrauchten. Das Gesetz muß vorsehen, daß für begabte Kinder sozial Schwächergestellter Erziehungsbeihilfen zu leisten sind. Es kann anordnen, daß ein angemessenes Schulgeld zu zahlen ist, wenn die wirtschaftliche Lage des Schülers, seiner Eltern oder der sonst Unterhaltspflichtigen es gestattet.

(2) Der Zugang zu den Mittel-, höheren und Hochschulen ist nur von der Eignung des Schülers abhängig zu machen.
(Quelle: Verfassung von Hessen)
Also eigentlich ganz einfach: Absatz 1 Satz 1 der Landesverfassung sagt, dass Schulen und Hochschulen grundsätzlich unentgeltlich sind. Ausnahme: von Schülern bzw. Eltern, die es sich leisten können, kann Schulgeld verlangt werden.
Exkurs:
Die Verfassung aus dem Jahr 1946 hat zum Teil bemerkenswerte Erkenntnisse:
  • Art. 27 Abs: 2
    "(2) Jeder hat nach seinen Fähigkeiten ein Recht auf Arbeit und, unbeschadet seiner persönlichen Freiheit, die sittliche Pflicht zur Arbeit."
  • Fast ebenso schön Art. 29 Abs. 4 und 5:
    "(4) Das Streikrecht wird anerkannt, wenn die Gewerkschaften den Streik erklären.
    (5) Die Aussperrung ist rechtswidrig. "
Damals (1946) war die Welt noch so in Unordnung, dass man sich nicht genierte, eine schöne und bessere Welt in die Verfassung hineinzuschreiben..

Das hessische Studienbeitragsgesetz dreht den einem ähnlichen Geist entsprungenen Grundsatz der Unentgeltlichkeit von Schule und Hochschule um: Alle Studenten (ja, auch alle Studentinnen) sollen Studienbeiträge zahlen; wer arm ist, kriegt dafür zinslose Darlehen...

"Unentgeltlich" ist das nicht. Und Sinn und Zweck von Art. 59 Landesverfassung Hessen scheint es ja zu sein, den Schul- und Hochschulbesuch ohne Entgelt zu ermöglichen.

Sechs der 11 Staatsgerichtshofmitglieder sehen das anders, eine starke Minderheit von 5 Richtern immerhin bestätigt dieses Alltagsverständnis von "unentgeltlich".

Lesen und verstehen sind offenbar zweierlei. Nachdem gestern bedauert werden musste, dass die Landtagsmehrheit in Hessen nicht liest, was sie beschließt, muss man es hier um so mehr bedauern, dass Richter eines Landesverfassungsgerichts nicht verstehen wollen, was sie lesen.

"Hessische Zustände"...

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Mittwoch, 11. Juni 2008
Fehler
"Errare humanum est" - der alte Lateiner wusste es, und der Rest der Menschheit weiß es eigentlich auch: Menschen machen Fehler.

Auch SPD, Grüne und Linke in Hessen. Zwar mag man lange darüber streiten, ob die Festsetzung von Studiengebühren oder deren Abschaffung ein Fehler ist. Aber:
"...Ein Versehen beim Kopieren von Textpassagen machen SPD und Grüne für den gravierenden Fehler in ihrem Gesetz zur Abschaffung der Studiengebühren in Hessen verantwortlich. „Da gibt es nichts drumrumzureden, das ist ein Fehler, der uns passiert ist“, sagte der Fraktionsgeschäftsführer.
...
In dem von SPD, Grünen und Linken gegen den Willen der CDU verabschiedeten Gesetz fehlt der entscheidende Satz, dass die Gebühren zum letzten Mal für das Sommersemester 2008 gezahlt werden müssen. Dieser Satz stand nach Wagners Angaben bei den Beratungen noch im Gesetzestext. Er sei beim Erstellen des endgültigen Textes für die Landtagsverwaltung verschwunden - wie genau, sei noch ungeklärt. ..."
(Quelle: faz.net)
Soweit alles normal. Auch dass der hessische Ministerpräsident sich weigert, ein offenkundig fehlerhaftes Gesetz auszufertigen, ist in Ordnung. Er darf nur formal einwandfreie Gesetze ausfertigen.

Streit ist entstanden, ob er seine politischen Gegner vorab hätte warnen müssen.

Und da geht es ums Grundsätzliche:

Menschen lernen nun mal am besten aus Fehlern, vorzugsweise aus den selbst gemachten. Wenn jetzt SPD, Grüne und Linke auf den Ministerpräsidenten einprügeln, dann erinnert das an Kinder, die ihre Eltern verantwortlich machen wollen, wenn sie selbst auf die Nase gefallen sind. Ein Vorwurf wäre dem Ministerpräsidenten nur zu machen, wenn die Parlamentarier alle Analphabeten wären. Dafür gibt es jedoch keine Indizien.

Vielmehr könnte es der allgemeinen politischen (und gesetzgeberischen) Kultur gut tun, wenn der einzelne Abgeordnete tatsächlich den Text lesen würde, über den er gerade abstimmt. "Wer lesen kann, ist klar im Vorteil"

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