Montag, 5. Oktober 2009
Reizworte (diesmal nichts über Juden)

Nicht nur über den "Holokaust", sondern auch über "Türken und Araber" kann man nicht mehr einfach so daherreden. Herr Sarrazin hat es dennoch gemacht, wenn auch in einer eher etwas weniger oft gelesenen Zeitschrift ("Lettre International").

Zwei Zitate erregen die Öffentlichkeit:
„Eine große Zahl an Arabern und Türken hat keine produktive Funktion, außer für den Obst- und Gemüsehandel, und es wird sich auch vermutlich keine Perspektive entwickeln.“
Und weiter:
„Ich muss niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert.“
(Quelle: Zusammenstellung bei Tagesspiegel)
Allerdings hat man sich da offenkundig einfach ein paar Zitate zusammengesucht, um sich aufregen zu können. Das Interview selbst (auszugsweise online bei lettre international) ist hingegen ziemlich spannend und informativ. "Verfetteter Subventionsempfänger" liest man beispielsweise nicht alle Tage:
1990/91 hatte man eine Vision von der Wiedererstehung Berlins der zwanziger Jahre, doch Berlin ist weder Industriezentrum noch Bankenzentrum; ein intellektuelles Zentrum schon, aber nicht mit dem Gewicht der zwanziger Jahre. Die Drehscheibenfunktion zwischen Ost und West wurde nicht von Berlin übernommen, sondern von Wien. Die Wiener haben das alte k. u. k. Vorfeld wiedergewonnen und profitieren von den einstigen Verhältnissen. Österreich hat mehr internationale Organisationen für sich gewonnen, seine Banken sind zügig in den Osten hineingegangen. Wien war eine dynamische Stadt, die sich am kapitalistischen Markt behaupten mußte, in Berlin saß ein verfetteter Subventionsempfänger, der durch Entzugsschmerzen erst wieder an die Wirklichkeit gewöhnt werden mußte....
(Quelle: Lettre International)
Das meiste von dem, was Herr Sarrazin sagt, klingt überzeugend. Und als ehemaliger Finanzsenator von Berlin wird er auch wissen, ob es tatsächlich überwiegend Türken und Araber sind, die von der Stadt Berlin Sozialleistungen beziehen.

Die Reaktionen hingegen sind eher skandalös! Man veranlasst Herrn Sarrazin zu einer Entschuldigung, legt ihm den Rücktritt aus dem Bundesbankvorstand nahe und lässt staatsanwaltlich prüfen, ob es sich bei den Äußerungen um "Volksverhetzung" handelt.
Falls man in der Berliner Staatsanwaltschaft gerade kein StGB zur Hand hat, hier mal der Wortlaut von § 130 StGB:
(1) Wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören,
  1. zum Haß gegen Teile der Bevölkerung aufstachelt oder zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen sie auffordert oder
  2. die Menschenwürde anderer dadurch angreift, daß er Teile der Bevölkerung beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet,
wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.
(Quelle: www.gesetze-im-internet.de)
Wer da mal 17 € investiert und das ganze Interview liest, wird Schwierigkeiten haben, irgendetwas zu finden, was "zum Haß gegen Teile der Bevölerkung aufstachelt" ...

Meinungsfreiheit jedenfalls sieht anders aus. Immerhin gibt es auch Stimmen, die das Geschehen gelassener beurteilen:
Soll er SPD-Mitglied bleiben? Das müssen die Sozialdemokraten unter sich ausmachen. Soll er im Vorstand der Bundesbank bleiben? Das Argument, Sarrazin habe das Vertrauen der Bürger verletzt, erscheint abwegig: Unabhängigkeit gegenüber Druck von Politik und Wirtschaft, die Sarrazin mehrmals bewiesen hat, scheint keine schlechte Qualifikation für einen, der über den Wert des Geldes wacht. Entscheidend ist etwas anderes: Wenn Menschen, die Verantwortung tragen, nicht mehr öffentlich nachdenken und irren dürfen, wird das öffentliche Gespräch öde und dumm.
(Quelle: Welt online)
Varzil freut sich hingegen: Es gibt sie noch, die gut gemachten Zeitschriften.

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