Dienstag, 6. Juni 2006
Neue und alte Musik
Da ist schon so viel über Neue und Alte Musik geschrieben worden, dass man eigentlich nichts Neues dazu sagen kann. Auch in Koriander.

Und dennoch erlebt man immer wieder Erstaunliches, zuletzt am Pfingstsonntag in der Kölner Philharmonie, als Barock und Moderne ziemlich unvermittelt miteinander kombiniert wurden. Das Freiburger Barockorchester spielt Bachs Ouvertüre Nr. 1 und die "Hochzeitskantate" mit dem schönen Titel "Weichet nur, betrübte Schatten". Ein ungetrübter Genuss ohne Makel, wenn man einmal davon absieht, dass die Sopranistin Sophie Karthäuser (Bild rechts bei www.sophiekarthauser.com) für die erkrankte spanische Mezzosopranistin Maite Beaumont eingesprungen ist, aber offenkundig Mühe hatte, in den tieferen Registern den notwendigen Klang zu entfalten. Ansonsten hörte man ihr in der nicht einfachen Partie gerne zu, denn sie sang mit spürbarer Freude und viel Ausdruck einen ebenfalls nicht ganz einfachen Text, z.B.:
      "...Wenn die Frühlingslüfte streichen
      Und durch bunte Felder wehn,
      Pflegt auch Amor auszuschleichen,
      Um nach seinem Schmuck zu sehn,
      Welcher, glaubt man, dieser ist,
      Dass ein Herz das andre küsst. ..."
    (Quelle: Kantatentext BWV 202)
Ganz anders hingegen die zwei Werke, die von diesen barocken Schmuckstückchen "eingerahmt" wurden, nämlich "Imprint" von Michel van der Aa und "Rubricare" von Rebecca Saunders. Die Werkbeschreibung der Kölner Philharmonie trifft im Wesentlichen zu:
    "Der niederländische Komponist Michel van der Aa hat mit seinem Beitrag »Imprint« ein modernes Concerto grosso geschrieben: Virtuose Figurationen werden geradezu manisch wiederholt und verbreiten sich von der Solovioline aus wie ein Lauffeuer durchs ganze Orchester. In die kurzen Spielpausen klingt leise ein Akkord des Orgelpositivs herein, erzeugt durch »Bleifinger«, die nach und nach auf bestimmte Tasten des Instruments gelegt werden. Dieser Akkord gleicht einem Abdruck (»imprint«) der wichtigsten Noten des Stücks – oder der Hand eines längst verstorbenen Barockkomponisten.
    Rebecca Saunders verzichtet in ihrer Komposition »rubricare« auf stilistische Anleihen aus der Barockzeit. Gleichwohl nutzt sie die klangfarblichen Möglichkeiten der historischen Aufführungspraxis sehr bewusst, wie es ohnehin ihrer Arbeitsweise entspricht: Die Engländerin findet es »absolut unmöglich«, mehr als zwei neue Stücke im Jahr zu produzieren. Das liegt daran, dass sie vor der eigentlichen Kompositionsarbeit immer äußerst gründlich das Potenzial der gewählten Besetzung erforscht – also jedes Mal gewissermaßen bei Null anfängt. Ihre Obsession für sorgsam ausgehörte (Klang-)Farben zeigt sich schon an den Titeln ihrer Werke: Die lauten zum Beispiel »Blue and Gray«, »Shades of crimson« oder »Cinnabar« (Zinnober). »Rubricare« setzt diese Reihe fort, denn rubrizieren meint ja auch im Deutschen ursprünglich »rot markieren«; die spätere Bedeutung von Rubrik als »Fach, Spalte« rührt daher, dass man im Mittelalter Kapitelüberschriften mit roter Tinte schrieb.
    (Quelle: Jürgen Ostmann in der Konzertankündigung der Kölner Philharmonie)
Und dennoch verschweigt der Text wesentliches: die "manischen Wiederholungen" und "Obsessionen" sind einfach nach ganz kurzer Zeit langweilig. Schön war die Musik an keiner Stelle, virtuos dagegen oft. Virtuosität allein macht Musik aber weder schön noch interessant.

Das Spannendste an "Imprint" war noch, dass da ein Orgelpositiv auf der Bühne stand, aber weit und breit kein Organist zu sehen war. Dann legte in unregelmäßigen Abständen der Erste Geiger und Leiter des Freiburger Barockorchesters einen "Bleifinger" auf eine Taste oder entfernte ihn wieder. Im "Rubricare" ist dem Autor vor allem die Stelle in Erinnerung geblieben, an dem der Cembalist aufsteht, um einen zackigen Viervierteltakt zu dirigieren, während die Streicher auf den Griffbrettern ihrer Instrumente alle möglichen Rhythmen, bloß eben keinen Viervierteltakt klopfen.

Spannend war dann schließlich auch, ob das Stück zu Ende ist, wenn es still wird.

Merksatz:
    Wenn alle Streicher in einem modernen Stück die Geige absetzen und den Bogen sinken lassen, ist das Stück mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Ende.
Insgesamt ein schöner Konzertabend, weil der Autor die Karten in einer Verlosung gewonnen hatte und Bach auch dann schön ist, wenn es zwischendurch mal nicht so schön ist.

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