Mittwoch, 22. Februar 2006
Theater um das Theater
Nicht nur wenn man in die Oper geht (z.B. Fidelio in Bonn), kann man was erleben.
Herr Stadelmaier von der FAZ hat etwas erlebt:Links also die Sicht von Herrn Stadelmaier. Der Regisseur Herr Hartmann sieht das naturgemäß leicht anders:
    Das Schauspiel Frankfurt hatte in der Schmidtstraße 12, seiner Nebenspielstätte, „Das große Massakerspiel. Oder Triumph des Todes” von Eugene Ionesco angesetzt, Regie führte Sebastian Hartmann.
    ...
    Man spielt in der Frankfurter Schmidtstraße aber nicht Ionescos „Großes Massakerspiel”, sondern offenbar ein Anti-Stück mit dem ungefähren Arbeitstitel „Entgrenzung” oder auch „Aufhebung des Theaters” (Ionescos Erben und Rechte-Inhaber sollten sich das ruhig mal anschauen). Schauspieler erbrechen minutenlang Mineralwasser, einer Schwangeren wird das Fruchtwasser abgezapft und dieses dann geschlürft, wobei eine andere Frau zwei Männer, die „Ein Bier!” verlangt hatten, ausgiebig masturbiert und das Publikum gebeten wird, doch mit den Schauspielern mal rumzuwandern und hinter Wände zu horchen. Dieses Theater will nicht, daß man zuguckt und mitfühlt und sich eine Meinung oder gar eine Haltung bildet. Dieses Theater will auch keine Kritik. Es will, daß man mitmacht.
    ...
    Ich bin aber nicht im Theater, um mitzumachen. Ich gehöre nicht zum Theater. Ich gehöre zur Öffentlichkeit. Ich bin auch nicht fürs Theater da. Ich bin fürs Publikum da. Wer Kritiker attackiert und beleidigt und anpöbelt, attackiert und beleidigt, bepöbelt das Publikum: die Öffentlichkeit des Theaters.

    Denn als ich über den toten Schwan, den die Schwangere aus ihrem Fruchtwasser hervorpreßte, zu lächeln wagte, sagte der Schauspieler Thomas Lawinky zu einer Mitspielerin: „Der da” (und da deutete er auf mich) „hat gerade gelacht. Zeig dem mal das Kind.” Dann legten sie mir den toten Schwan in den Schoß, und Herr Lawinky forderte mich auf: „Schreiben Sie, daß das ein schönes Kind ist, schreiben Sie das. Sie sehen doch so klug aus.” Auf meine leise gemurmelte Replik: „Sie leider nicht”, riß er mir meinen Kritikerblock brutal aus der Hand, rannte auf die Spielfläche, hob meinen schönen Spiralblock wie eine Trophäe hoch und schrie: „Wollen mal sehen, was der Kerl geschrieben hat.”

    Er konnte aber meine Notizen nicht verstehen und gab mir den Block zurück mit den Worten: „Schreib weiter, Junge, der Abend wird noch furchtbar.” ...
    Als ich nach dieser Attacke auf meinen Körper und meine Freiheit, die nichts weniger als die Freiheit der Presse ist, den Saal verlassen wollte, rief er mir, wie gesagt, ...

    „Hau ab, du Arsch! Verpiß dich! Beifall für den Kritiker”

    nach.
    ..."
    (Quelle: Stadelmaier in faz.net)
    Berliner Zeitung (BZ): "Herr Hartmann, können Sie uns den Hergang aus Ihrer Sicht schildern?

    Es war so, dass wir in einer Halle an verschiedenen Orten spielten und das Publikum aufforderten, sich zu bewegen. Beim ersten Ortswechsel, wir hatten sehr helles Licht, blieb ein Kritiker demonstrativ sitzen. Wir wussten nicht, dass das Gerhard Stadelmaier von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ist. Thomas Lawinky hat den Herrn freundlich aufgefordert - ich betone: freundlich, dafür gibt es Zeugen - mitzukommen. Daraufhin wedelte Herr Stadelmaier entsetzt mit dem Arm und rief: "Nicht anfassen! Nicht anfassen!" Lawinky ließ ihn in Ruhe. Später gähnte Herr Stadelmaier mehrfach. Und das nicht in einem Publikum von 1 400 Leuten, wo 25 Spots auf einen Guckkasten gerichtet sind und die Schauspieler das sowieso nicht mitbekommen, sondern in einer ausgeleuchteten Halle, während die Schauspieler teilweise auch im Publikum spielten. Dann ging Stadelmaier dazu über, seinem Kollegen gestisch seine Meinung über den Abend, der gerade erst angefangen hatte, mitzuteilen: Er wedelte scheibenwischerartig mit der Hand vor seinem Gesicht und signalisierte so dem Kollegen, aber eben auch den Schauspielern: Ich werde diesen Abend verreißen. Als eine Schauspielerin mit Tränen in den Augen ungefähr anderthalb Meter von Herrn Stadelmaier entfernt einen toten Vogel gebar, lachte der Kritiker höhnisch. Da sprach Lawinky ihn an. Und er sagte nicht: Wie blöd sind Sie denn?, sondern er blieb in seiner Rolle und sagte ungefähr: "Bitte schreiben Sie doch morgen in der Zeitung, was für ein schöner Junge hier auf die Welt kam. Bitte, schreiben Sie das, Sie sehen so intelligent aus." Als Herr Stadelmaier erwiderte: "Sie leider nicht!", nahm Lawinky dem Kritiker seinen Block weg. Das wird jetzt als krimineller Akt gewertet, als Angriff auf die Person, als Nötigung und - ganz sensibles Thema - als Angriff auf die Pressefreiheit.

    BZ: Nicht auch als Diebstahl?

    Herr Stadelmaier hat den Block einen Augenblick später unversehrt zurückbekommen. Lassen Sie uns einfach mal festhalten, dass es sich um eine Premiere handelte. Wir wollen Herrn Lawinky doch zugestehen, dass er aufgeregt ist. Er weiß, dass er ungefähr eine Viertelstunde später sein Glied entblößen wird. Lawinky sieht auf der einen Seite eine Kollegin, die voll im Spiel ist, weinen - und anderthalb Meter daneben einen Menschen, der zynisch lacht. Das ist ja fast Gottes Fügung, dass sich dieser Mensch auch noch als ein Herr Stadelmaier herausstellt.

    BZ: Herr Stadelmaier schreibt, dass er sich auf den Abend gefreut hat.

    Das ist albern. Man braucht nur eine Kritik von ihm über meine Arbeit zu lesen, um zu erkennen, dass ihm meine Arbeit grundsätzlich nicht zusagt. Er äußert das so deutlich, dass es eigentlich auch zum Thema "Beleidigung im öffentlichen Raum" gehört. Wir haben sehr unterschiedliche Auffassungen davon, was Theater soll und kann. Wenn er die reinen Stücke genießen will, soll er sie doch lesen. ...
    (Quelle: Berliner Zeitung)

Was danach geschah: der Arbeitsvertrag mit Herrn Lawinky wird einvernehmlich aufgehoben.

Und die Republik diskutiert, was da passiert ist: so gibt es Meinungen, dass man als Theaterbesucher bei einer Hartmann-Inszenierung mit so etwas rechnen müsse
    "Wer in eine Inszenierung von Hartmann geht, der müsste wissen, worauf er sich einlässt"
    (Schlingensiefen in der netzeitung)
Eine Übersicht zu weiteren Statements gibts z.B. bei kraxler.

Fazil:
Wer in das Theater geht, um sich einfach einen schönen Abend zu gönnen, muss nicht nur ordentlich bezahlen, sondern auch damit rechnen, beschimpft zu werden. Ein weiterer guter Grund, nur noch selten ins Theater zu gehen. Was ist eigentlich schlimm daran, wenn man die "reinen Stücke genießen will"?
    "Wenn er die reinen Stücke genießen will, soll er sie doch lesen. (Quelle: H. Hartmann in Berliner Zeitung)
Er hätte auch schlicht formulieren können:
    Solche Leute wie Dich wollen wir nicht im Theater sehen.
Nachtrag vom 23.2.2006
Vielfach hält man Herrn Stadelmaier für überempfindlich - und wenn es stimmt, dass er tatsächlich in dem o.g. FAZ-Artikel 32 (in Worten: zweiunddreißig - Zählung von Peter Michalzik in der Frankfurter Rundschau) mal das Wort "ich", das ansonsten ein anständiger FAZ-Redakbenteurer sich wohl erst vom Herausgeberkollektiv genehmigen lassen muss, verwendet hat, hat das einiges an Plausibilität.

Während die meisten Beiträge sich mit der Sensibilität eines Kritikers ("Mann oder Memme") beschäftigen, interessiert sich die wenigsten für die Frage, ob mann und frau ins Theater gehen, um sich gegen Bezahlung beschimpfen zu lassen. ...

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Zumindest muss man
in den meisten Fällen davon ausgehen, dass das Publikum eine Ahnung hat, worauf es sich einlässt. In dem Provinztheater meiner Heimatstadt hat es nun schon seit bald drei Jahrzehnten Tradition, auch Stücke von Klassikern mit diversen Einlagen (Nazi-Uniformen, Kopulations- und Fäkalszenen und alles, was sonst noch schockt) anzureichern. Speziell das Abonnentenpublikum, zu dessen Sprachrohr sich der Kritiker der Lokalzeitung gerne macht, entrüstet sich immer noch pflichtschuldig, schreibt böse Briefe an die Intendanz, und die militanten Wortführer der Wir-wollen-wieder-ein-Theater-das-dem-Schönen-Wahren-und Guten-gewidmet-ist-Bewegung verlassen oft vorzeitig und unter Buh- und Protestrufen das Parkett und die Logenplätze. Aber man kommt natürlich auch das nächste Mal wieder, um die Abendgerobe zu lüften und sich pflichtschuldig über diesen "Schund" zu entrüsten. Wie schizophren ist das denn? Wenn ich mit dieser Art von Inszenierungen nichts anfangen kann, warum gab ich mir das dann? Stand es etwa irgendwo im Spielplan geschrieben, dass in der neuen Spielzeit alle Stücke nur noch als schäfchenweiche Kostüm- und Ausstattungs-Schinken inszeniert werden?

Mal konsequent weitergedacht: Vielleicht würde das pseudoavantgardistische Schockerspiel ja an Reiz verlieren, wenn sich keine Nörgler im Publikum mehr fänden, die genauso spießig und ignorant reagieren, wie es sich die Regisseure vorstellen.

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Das seh ich ähnlich:
1. Wer wiederholt ins Theater geht, um sich dort beschimpfen zu lassen, ist selbst schuld. Keiner wird gezwungen, dorthin zu gehen. Und wer nur geht, um das (neue?) Abendkleid auszuführen, hat es vielleicht auch nicht besser verdient.
2. Wem das, was in Oper und Theater geboten wird, egal ist, der hat die Verballermannisierung des Repertoires, die Beschimpfung des Publikums und letztlich den Verlust an Kultiviertheit, den er beklagt, selbst herbeigeführt.
3. Und wer dann Leserbriefe schreibt und meint, der örtliche Kulturdezernet in der Stadtverwaltung solle mal für ordentliche Kultur sorgen, hat erst recht nichts anderes verdient: warum geht er nicht dahin, wo das Theater gemacht wird, das ihm gefällt.
4. Die Kulturdezernenten sollten dementsprechend auch agieren und nicht den Bildungsidealen des 19. Jahrhunderts nachtrauern. Die staatliche Subventionierung sollte - wenn überhaupt - dann das fördern, was die Kulturdezernenten und ihre Stadträte sich selbst auch gerne und freiwillig ansehen, und nicht das, was irgendwelche Kritikaster sich und anderen schönschreiben: das Vollpinkeln von Bierflaschen z.B. machen die FC-Fans in der Südkurve für lau: dafür braucht es kein subventioniertes Theater.

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