Freitag, 22. September 2006
Passion in Knechtsteden
Passionen sind Leidenschaften und so etwas wie die Farben im Leben. So kann man sich leidenschaftlich für Musik begeistern, beispielsweise auch für die "Johannes-Passion" von Johann Sebastian Bach. Muss man aber nicht. Eine Leidenschaft zur Musik im Rheinland verbindet man jedenfalls nicht unmittelbar mit Bachs Passionen, sondern eher mit einer Leidenschaft zu Schumann oder Beethoven.

Einer Leidenschaft zur ländlichen, fast niederrheinischen Gegend gaben sich Prämonstratenser-Mönche im 12. Jahrhundert hin, als sie in der Nähe eines Fronhofs draußen vor den Toren von Köln und Neuss ein Kloster mit einer romanischen Basilika gründeten.

Das Kloster hießt dann ziemlich bald "Knechtsteden", weil es an der Stätte erbaut war, an der Knechte und Mägde ihre Frondienste (Fremdarbeit) zu leisten hatten, jedenfalls wenn man den Spiritanern, die heute das Kloster betreiben, glauben mag:
    "...Bereits neun Jahre nach der Gründung von Prémontré begannen die Reformer in Knechtsteden mit dem Bau des Stiftes, welches sie neben dem dortigen Frohnhof - auch Knechtstätte bzw. im Volksmund "Kniestede" genannt - errichteten...."
    (Quelle: www.spiritaner.de, Bild bei www.erzbistum-koeln.de")

Zurück zur Passion in der Rheinprovinz:
In den ehrwürdigen Gemäuern finden seit 1992 "Festliche Tage alter Musik" statt. Initiator der Festlichen Tage ist Hermann Max, u.a. Leiter der Rheinischen Kantorei. Das ist ein kleiner, aber feiner Chor, der sich weit über die Grenzen der Rheinprovinz hinaus einen Namen in der Alte-Musik-Szene gemacht hat.

Gestern Abend wurde dort in Knechtsteden die "Johannes-Passion" von Johann Sebastian Bach aufgeführt und der Haussender im Rheinland (WDR) sponsorte das Ganze, wegen einer Rundfunkaufnahme.

Was haben die Besucher der Festlichen Tage in Knechtsteden aber nun gestern gehört? Zunächst einmal hörten die meisten Zuhörer sicherlich etwas anderes als die WDR-Mikrofone. Der Klassiksender des WDR (“WDR 3, das Kulturereignis”) wird das wohl zu angemessener Zeit landesweit ausstrahlen, im Zweifel in der Fastenzeit oder der Karwoche. Nun aber zum Höreindruck:

Romanische Kirchen haben einen immensen Raumklang oder Nachhall oder Überakustik, wie auch immer man das beschreiben mag, was eine solche Kirche ausfüllt, wenn man ein Geräusch in ihr macht. Im Endeffekt zerfließt jede mehrstimmige, schnelle Musik zu einem Klangbrei. Wer die dargebotene Musik kennt, wird (nach kurzer Zeit) aus dem allgemeinen Gewaber die neuen Töne heraushören - wer die Musik nicht kennt, erlebt die grandiose Musik in einer eher psychodelisch interessanten Form: Klänge der vorvorletzten Modulation stehen im Raum und mischen sich mit den neu hinzukommenden aktuellen Harmonien zu ungeahnten Effekten.
    Exkurs:
    In eine romanische Kirche muss mit diesem Effekt rechnen. Durch die Überakustik entsteht bei gregorianischer (grundsätzlich einstimmiger) Musik eine künstliche Mehrstimmigkeit, unvermeidlich, wenn ein einzelner Ton mehr als 10 Sekunden nachhallt. Vermutlich sind romanische Kirchen auch im Hinblick auf diese damals zeitgenössische Musik gebaut worden - der Effekt ist also kein Zufallsergebnis, sondern - vermutlich - beabsichtigt.
Das Konzertpublikum in Knechtsteden kennt offenbar diesen Effekt auch und greift als erstes zu den teuersten (vorderen) Plätzen. Diese sind in aller Regel ruckzuck weg; wie gut man vorne hört, kann der Autor nicht sagen. Oft hört man da die einzelnen Stimmen und Instrumente gut, aber keinen Ensemble-Klang. Wer hingegen zu spät kauft, kauft Klangbrei. Der zu spät entschlossene Autor jedenfalls sitzt in Reihe 24.

Auch der WDR scheint das Problem zu kennen und positioniert die Mikrofone dicht bei den Aufführenden.
    Fortsetzung des Exkurses:
    Musik der Renaissance wie zum Beispiel von Palästrina oder di Lasso ist für diese Kirchen und ihre akustischen Eigenarten komponiert: Orlando di Lassos a-cappella-Musik zum Beispiel funktioniert also in alten Gemäuern hervorragend; der “Klangbrei” ist wohlschmeckend. Für spätere Komponisten trifft das nur noch mit Einschränkungen zu.
Die Johannes-Passion Bachs gehört sicherlich nicht zu den Werken, die für eine Aufführung in einer romanischen Kirche optimiert wurden. So gehen die virtuosen Chorsätze wie z.B. "Lasset uns den nicht zerteilen" denn auch gnadenlos in einem grandiosen Einheitsklangrausch unter.

Und daher war es kein Wunder, dass die langbeinige und in Sachen klassischer Musik unerfahrene Konzertbegleitung den Autor gestern nach dem Ersten Teil fragte:
"In welcher Sprache singen die eigentlich?"
Dies sei hier nur erwähnt, um die Auswirkungen des Klangbreis auf einen unerfahrenen Zuhörer zu beschreiben.

Natürlich sang man deutsch. Wie zu erwarten brachte dann schon der Eingangschor "Herr unser Herrscher" eine auch für den Autor neuartige Klangerfahrung: Man sah, dass der Chor um deutliche Artikulation und Diktion bemüht war, aber man hörte es nicht - allenfalls das "sch" im "Herrscher" und "Z" sowie "s" in "Zeig uns durch deine Passion" waren wahrnehmbar.

Da half es auch nur wenig, dass in den Chorälen ungefähr zehn Knaben des Kölner Domchors den Sopran verstärkten.

Hermann Max (Bild rechts bei www.rheinischekantorei.de) wäre aber nicht Hermann Max, wenn er einfach nur eine weitere Johannes-Passion aufgeführt hätte. Der studierte Musiker, Musikwissenschaftler und Archäologe (zum Lebenslauf) grub Unterlagen Robert Schumanns über eine Aufführung der Johannes-Passion von J. S. Bach aus. Und als Festspielinitiator hat er nun eben diese Johannes-Passion in der Robert-Schumann-Fassung zu Gehör gebracht. Zugehört haben etwa 500 Zuhörer und die Mikrofone des WDR.

In dem großen Klangraum einer romanischen Basilika haben Schumanns Skizzen dann wohl das ihre dazu getan, dass der Klangbrei um weitere Klangfarben bereichert wurde.

Am auffälligsten war sicherlich das Hammerklavier als Continuo. Normaler Weise übernimmt ein Cembalo oder ein Orgel-Positiv den Continuo-Part. Zumindest ein Cembalo hätte in einer so halligen Akustik mit dem Anreiß-Klang der Saiten eine schlagzeugartig geordnete Struktur in die Summe der Klänge bringen können. Ein Hammerflügel bringt in die Klangsumme hingegen weniger ein Anschlaggeräusch ein als eine weitere, wenn auch durchaus angenehme Klangfarbe. Die Musik wird dadurch allerdings nicht besser durchhörbar. Immerhin weicht das Klangbild von dem, was der Klassik-Hörer kennt, doch so merklich ab, dass man zunächst konzentrierter hinhört.

Eine weitere ungewohnte Klangfarbe gab es an der Stelle "Der Held aus Juda siegt mit Macht". Es waren nur ein paar Trompetentöne, die Bach aber sicherlich nicht vorgesehen hatte. Schon so, wie Bach die Alt-Arie “Es ist vollbracht” instrumentiert hat, lässt die Passage den Zuhörer stutzen und aufmerken. In der Schumann-Version mit den Trompeten untermalt wirkt die Szene “Der Held aus Juda...” wie ein Slapstick-Gag - nötig hat die Musik diesen Effekt eigentlich nicht: Im Gegenteil bringt es in den eigentlich todtraurigen Kontext eine seltsam deplatzierte, aufdringliche Fröhlichkeit.

Das hält die Johannes-Passion zwar aus, lässt den Zuhörer allerdings etwas leiden.

Die eigentlichen Leiden des Zuhörers, das Kreuz mit der Passion, haben ihren Grund allerdings in der Jahreszeit. Sicherlich ist es angenehm, die barock-romantische Passionsgeschichte bei sommerlich wohltemperierten Bedingungen zu hören anstatt in einer winterlich ausgekühlten Kirche, in der die Luft mühsam auf spartanische 16 - 18 Grad kurzfristig aufgeheizt wurde. Auch muss man sich nicht in dicke Jacken einmummeln. Alles eigentlich angenehme Rahmenbedingungen, wenn man davon absieht, dass dicke Winterkleidung die Überakustik vermutlich besser gedämpft hätte. Nein, an der Temperatur liegt es nicht. Das Kreuz mit der Passion, sozusagen des Pudels Kern, beginnt anderswo: Eine Johannespassion im September, das ist wie Pflaumenkuchen im Dezember: lecker, passt aber nicht zu Weihnachten.

Zu dieser Art von Passion des Zuhörens gehört dann auch ein Erlebnis gegen Ende des Ersten Teils: Jesus ist gefangen genommen und von den Hohenpriestern verhört worden. Der Erste Teil der Passion schließt mit einem Choral, der mit den nicht gerade welterschütternden, aber doch bemerkenswerten Worten endet:
    "... Wenn ich Böses hab getan,
    Rühre mein Gewissen!"
Wie in der Oper, als hätte der Heldentenor gerade ein strahlendes hohes C vollbracht, brandet Applaus auf: Schon allein wegen der akustischen Verhältnisse kann ausgeschlossen werden, dass das Publikum mit dem Applaus eine eigene Gewissenserforschung einleiten will - sozusagen eine Gruppenbeichte. Vermutlich ist es eher das Kulturereignis, das hier gefeiert werden will.

Vielleicht hat aber ein Teil des Publikums auch die Hoffnung, es sei schon vorbei. ...

Das lässt Schlimmes für den Schluss befürchten. Und in der Tat, das Publikum klatscht erst vereinzelt, dann kollektiv begeistert in das Ausklingen des Schlusschorals hinein. Jeder Ansatz von Nachdenklichkeit ist im Nu hinweggeklatscht, ganz zu schweigen von so altertümelnden Regungen wie "Andacht" oder "Demut" angesichts der Grausamkeit und Unfassbarkeit des Geschehens, aber auch angesichts der Genialität, wie das grausige Geschehen in Musik umgesetzt ist.
    Exkurs:
    Der Streit darüber, ob man nach einer Passions-Musik klatschen sollte, ist wohl so alt wie die Praxis konzertanter Passions-Aufführungen überhaupt. Grundsätzlich und prinzipiell erscheint es einfach unpassend, nach einer solchen Marter- und Horror-Geschichte, noch dazu ohne Happy-End, in laute Beifallsbekundungen auszubrechen. Punkt.

    Andererseits erfordert die Johannespassion den Aufführenden einiges im Hinblick auf die künstlerische Darbietung ab: Evangelist, Chor, Orchester, aber auch die anderen Solisten haben einen zum Teil sehr anstrengenden und nie anspruchslosen Part zu absolvieren. Und wenn sie das derart bravourös wie gestern beispielsweise der Alt (Gerhild Romberger) oder auch der Chor (Rheinische Kantorei) tun, dann verdient das die Anerkennung durch das Publikum. Noch einen Punkt.

    Fazit: eigentlich keines; soll jeder doch für sich entscheiden, was er für angebracht hält; in einigen Aufführungen wird im Programm sogar ausdrücklich Applaus zugelassen oder um Ruhe gebeten.
Wer allerdings so gefühllos wie gestern Abend in den Nachklang eines der schönsten Choräle ("Ach Herr, laß dein lieb Engelein") hineinklatscht, hat entweder überhaupt nicht zugehört, ist lediglich heilfroh, dass es jetzt endlich zu Ende ist, oder ist emotional hochgradig depriviert bzw. von dem “Kultur-Event” so hingerissen, dass er sein eigenes Handeln nicht mehr hinterfragt.

Einigermaßen verstört verlässt man dann möglichst bald die Stätte der Aufführung einer Passion. Im Autoradio läuft "Purple Haze" von Jimi Hendrix - das passt zwar nicht zu Bach, aber bringt den passioniert leidenden Zuhörer einer Johannes-Passion auf andere Gedanken.

Dinge, die nicht zu einander passen:
  • Schumann und Bach-Passion
  • barocke Passionsmusik in romanischen Kirchen
  • Szenenapplaus in einer Passion
  • überhaupt: Applaus zu Horrorgeschichten
  • last no least der Preis: ca. 28 Euro + Spritkosten für ein akustisches Waterloo passen definitiv nicht zu einander.
Varzil glaubt, dass man Leidenschaften ausleben muss. Dazu gehört auch der Pflaumenkuchen zu Weihnachten.

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Danke an Varzil fuer den Denkanstoss
http://briefeankonrad.tripod.com/Lebenssinn/index.blog?entry_id=1561379

Gruesse
Konrad

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Varzil läßt herzlich zurückgrüßen.

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Oh ja, die Kölner Applauskrankheit, die verleidet mir auch zunehmend die Philharmoniebesuche usw. Zweidrittel des Publikums scheinen grundsätzlich noch nie etwas von der Mehrsätzigkeit gewisser Musikgenres wie Sinfonien gehört zu haben. Wenn es "nach Ende" klingt oder mehr als 2 sec still ist, geht der Radau los.

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Das "Klassik-Radio" macht es vor - man hört dort vorzugsweise auch nur so einen "Klassik-Digest".

Wenn man das Publikum erst einmal auf Häppchen-Kost gedrillt hat, ist es wohl sehr schwer, mit diesen Leuten dann ein mehrgängiges Menu zu genießen.

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