Dienstag, 15. August 2006
Taarof: Lüge und Wahrheit im Iran
Die Papierausgabe der Süddeutschen Zeitung hat montags eine Beilage mit Beiträgen aus der New York Times dabei. Oft liest man die Beilage nicht oder nur oberflächlich,
  • weil die Beiträge meist ein paar Tage alt sind,
  • weil man frühmorgens lieber deutsch als englisch liest oder
  • weil die Artikel dann doch etwas langweilig wirken
  • oder weil die Zeit nicht reicht oder
  • ...
Und wenn dann wie heute (Dienstag, 15.8.2006) wegen Mariä Himmelfahrt - wo sonst außer Bayern gibt es so schöne Feiertage mitten im August - keine "Süddeutsche Zeitung" erscheint, liest man beim Frühstück notgedrungen die Montagszeitung mit der Beilage etwas genauer. Ein Aufsatz dort von MICHAEL SLACKMAN beschreibt plastisch ein Kommunikationsproblem mit Iranern. Sie "lügen" nicht, aber sagen auch nicht notwendigerweise die Wahrheit. Taarof eben:
    "..
    There is a social principle in Iran called taarof, a concept that describes the practice of insincerity—of inviting people to dinner when you don’t really want their company, for example. Iranians understand such practices as manners and are not offended by them.
    But taarof is just one aspect of a whole framework for communication that can put Iranian words in a completely different context from the one Americans are familiar with.
    “You have to guess if people are sincere, you are never sure,” said Nasser Hadian, a political science professor at the University of Tehran. “Symbolism and vagueness are inherent in our language.”
    ...
    “Speech has a different function than it does in the West,” said Kian Tajbakhsh, a social scientist who lived for many years in England and the United States before returning to Iran a decade ago.
    “In the West, 80 percent of language is denotative. In Iran 80 percent is connotative.” Translation: In the West, “yes” generally means yes. In Iran, “yes” can mean yes, but it often means maybe or no. In Iran, Dr. Tajbakhsh said, listeners are expected to understand that words don’t necessarily mean exactly what they mean.
    “This creates a rich, poetic linguistic culture,” he said. “It creates a multidimensional culture where people are adept at picking up on nuances. On the other hand, it makes for bad political discourse. In political discourse people don’t know what to trust.”
    It is not a crude ethnic joke or slur to talk about taarof, but a cultural reality that Iranians say stems from centuries under foreign occupation. Whether it was the Arabs, the Mongols or the French and the British, foreign hegemony taught Iranians the value of hiding their true face.
    (Quelle: Montagsbeilage der Süddeutschen Zeitung, S. 1 und S. 4, online bei New York Times nur gegen Geld lesbar)
Das dahinter stehende Konzept erinnert an zum Scheitern verurteilte Kommunikationsversuche von Europäern in Fernost. Dem Hörensagen nach gibt "der" Japaner, Koreaner, Indonesier auf die Frage nach dem Weg lieber eine begeisterte, aber falsche Auskunft, als dass er zugibt, die Adresse nicht zu kennen. Angeblich weniger aus Scham über die eigene Unkenntnis, sondern vielmehr deshalb, um den Fremden in seiner Hilfeerwartung nicht enttäuschen zu müssen.

Aber zurück zu Persien:
Varzil hat sich ja schon mal über Ahmadinedschad gewundert (siehe Eintrag "Israel soll umziehen") - möglicherweise darf man "den" Iraner einfach nicht beim Wort nehmen. Ignorieren wäre auch eine Alternative, zumindest solange, bis plausibel ist, dass er meint, was er sagen.

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Wie betriebsblind muss man sein,
wenn man diese konnoative Floskelhaftigkeit nur im Orient und nicht in Amiland selber sieht. Warum muss ich nach einem bathroom oder restroom fragen, wenn ich weder baden noch mich ausruhen will, und warum begrüße ich jemanden mit der Frage "how do you do", wenn ich es als absoluten faux pas empfinde, dass derjenige mir daraufhin tatsächlich erzählt, wie es ihm geht?

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Ob es wirklich eine gezielte Mehrdeutigkeit ist? Welch ein Ami-Restaurant hat denn wirklich ein Badezimmer oder einen Ruheraum?

Das ist m.E. eher Ausdruck von amerikanischer Prüderie: Ausscheiden von Körperflüssigkeiten (auch: Stillen) ist irgendwie pfui bah, eklig, man macht es notgedrungen, aber man redet nicht darüber bzw. nur verschlüsselt. Jeder weiß jedoch, was gemeint ist.

Dieses "Taarof-Prinzip" zielt jedoch auf das Gegenteil ab: man will gerade nicht erkennen lassen, was man meint. ...

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Ich sehe da keinen grundlegenden Unterschied,
auch wenn sich die Diskrepanz zwischen sagen und meinen in einem Fall eher aus Prüderie speist und in im anderen Fall aus seltsamen Vorstellungen von Höflichkeit, die direkten Widerspruch oder Verneinung als Konfrontation empfindet.

Ich wollte damit auch nur sagen, dass es zu holzschnittartig ist, solche Phänomene nur entlang der Ost-West-Achse zu verorten. Das spanische Wort "manana" kann dies- und jenseits des Atlantik auch alles mögliche bedeuten kann von "morgen" über "weiß-nicht-genau-wann" bis "nie im Leben". Also auch eher eine Verschleierung als eine Klärung von Sachverhalten...

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d'accord
"Ost-West-Achse" greift sicherlich zu kurz. Das Phänomen Taarof ist aber schon eigenartig: offenbar gibt es Kulturen, die stärker auf Mehrdeutigkeit in der Kommunikation wert legen als auf Eindeutigkeit.

Der iranische Alltag lässt vor diesem Hintergrund auf ein Mehr an Witz und ungewollter oder auch beabsichtigter Komik hoffen.

Im Kontext einer Weltpolitik ist so etwas jedoch meines Erachtens zum Scheitern verurteilt: in einer UN-Abstimmung mit "ja" oder mit "nein" abzustimmen und sich dann eventuell darauf zurückzuziehen, dass das alles so nicht gemeint war - das kann nur schief gehen.

(Tut es ja auch oft genug.)

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