Mittwoch, 24. August 2005
Wahl und Verfassung
Man lernt doch immer wieder dazu; heute gab es drei Lernerfahrungen - an einem Tag:
1. Erst- und Zweitstimme:
    § 6 Abs. 1 Satz 1 Bundeswahlgesetz:
    Für die Verteilung der nach Landeslisten zu besetzenden Sitze werden die für jede Landesliste abgegebenen Zweitstimmen zusammengezählt.
Das überrascht nicht besonders, sondern ist einfach die Beschreibung eines typischen Wahlvorgangs. Aber der Text geht weiter (Hervorhebungen stammen vom Autor):
    § 6 Abs. 1 Satz 2 Bundeswahlgesetz:
    Nicht berücksichtigt werden dabei die Zweitstimmen derjenigen Wähler, die ihre Erststimme für einen im Wahlkreis erfolgreichen Bewerber abgegeben haben, der gemäß § 20 Abs. 3 oder von einer Partei, für die in dem betreffenden Lande keine Landesliste zugelassen ist, vorgeschlagen ist.... (Quelle: Juris)
Das ist wohl nicht allzu bekannt:
Im Klartext: Wer bei der Bundestagswahl Erst- und Zweitstimme unterschiedlichen Parteien gibt (Stimmensplitting), bei dem wird entweder nur die Erststimme oder nur die Zweitstimme gezählt. Taktische Spielchen wie
    "Partei X mag ich nicht, aber Kandidat Y (obwohl in Partei X) ist nett, also wähl ich ihn mal mit der Erststimme; meine Zweitstimme kriegt Lieblingspartei Z"
können damit gründlich in die Hose gehen.


Noch eine Lernerfahrung und Update:
Wenn man die Passage "der gemäß § 20 Abs. 3 oder von einer Partei, für die in dem betreffenden Lande keine Landesliste zugelassen ist" Ernst nimmt, gilt das wohl nur, soweit der Erstkandidat keiner Partei angehört.

Anmerkung vom 6.9.:
Noch was gelernt: zu Ende lesen und zu Ende denken hilft. § 6 Abs 1 S. 2 betrifft nur den Fall, dass ein Erstimmen-Bewerber ohne Partei (oder mit einer Partei unter 5 %) obsiegt. Ganz obsolet sind die Zweitstimmenspielchen also doch nicht.
2. Überhangmandate:
    § 6 Abs. 5 BWahlgesetz:
    § 6 ...
    (5) In den Wahlkreisen errungene Sitze verbleiben einer Partei auch dann, wenn sie die nach den Absätzen 2 und 3 ermittelte Zahl übersteigen. In einem solchen Falle erhöht sich die Gesamtzahl der Sitze (§ 1 Abs. 1) um die Unterschiedszahl;..." (Quelle: Juris)
Dieses Geschehen ("Überhangmandat") kommt regelmäßig vor. Eine Partei erhält mehr Erststimmen-Mandate, als ihr nach den Verhältnissen der Zweitstimmen zustehen. Diese Direktmandate darf sie gem. § 6 Abs. 5 BWahlG behalten.

Was passiert nun, wenn der Inhaber eines solchen Überhangmandats aus dem Bundestag ausscheidet (stirbt, sein Mandat niederlegt etc.)? Dafür gibt es offenbar keine gesetzliche Regelung, aber das Bundesverfassungsgericht hat es am 26.2.1998 gerichtet:
    Leitsätze:
    1. Ordnet das Wahlgesetz für die Nachfolge ausgeschiedener Abgeordneter keine Ersatzwahl an, sondern läßt es Ersatzleute eintreten, so sind die Voraussetzungen einer Wahl nur gewahrt, wenn die Ersatzleute schon am Wahltag mitgewählt worden sind.
    2. Nach § 48 Abs. 1 Bundeswahlgesetz werden die Ersatzleute für parteiangehörige Wahlkreisabgeordnete ebenso wie für gewählte Bewerber der Landesliste ausschließlich mit den für die Landesliste abgegebenen Zweitstimmen gewählt.
    3. a) Ersatzleute hält die Landesliste nur im Rahmen der Abgeordnetenzahl bereit, die aufgrund des Zweitstimmenergebnisses für die Landesliste ermittelt worden ist. LS 3a
    b) ... "(Quelle für diese Leitsätze: www.wahlrecht.de; im Original www.bundesverfassungsgericht.de)
Für die Inhaber eines Überhangmandats gibt es also keine Nachrücker, weil hierfür keine Nachrücker gewählt wurden.

Hier liegt neben der verloren Landtagswahl in NRW ein weiterer Schmerzpunkt für Schröder und Co: SPD und Grüne hatten 2002 die Wahl sehr knapp gewonnen. In Zahlen:
Im Jahr 2002 nach der Wahl gab es 603 Abgeordnete, eine absolute Mehrheit erforderte also 302 Stimmen.
    Regierung 306 Sitze = SPD 251 + Grüne 55
    Nicht-Regierung: 297 Sitze = 2 PDS + 248 CDU + 47 PDS
Grafi der STadt Bremen
    "... Bei den Wahlen von 2002 gab es fünf Überhangmandate, vier für die SPD, eines für die CDU. Pikanterweise beruhte die „Kanzlermehrheit” des Bundeskanzlers Schröder - sie ist aufzubieten bei der Wahl des Bundeskanzlers, aber auch bei der Überstimmung von Einsprüchen des Bundesrates gegen Gesetze - auf ebendiesen Überhangmandaten. ..."(Quelle:faz.net)
Inzwischen ist ein Überhangmandatsträger der SPD, Frau Hartnagel (SPD), verstorben. Das Parlament umfasst damit nur noch 602 Abgeordnete, eine absolute Mehrheit der Stimmen erfordert aber immer noch 302 Abgeordnete. (301 ist die Hälfte, aber eben gerade nicht mehr als die Hälfte von 602).

Der Kanzler verfügt zur Zeit damit nur noch über eine Mehrheit von 3 Stimmen. Das Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 26.2.1988 zu den Überhangmandaten sorgt dafür, dass die Mehrheit im Parlament von dem Überleben von 3 Abgeordneten abhängig ist ...
3. zur Entscheidung über die Vertrauensfrage:
Das Bundesverfassungsgericht hat 1998 zwar ausdrücklich festgestellt, dass es für Überhangmandatsträger, die ausscheiden, keine Nachrücker gibt. Allerdings drückte das Gericht im konkreten Fall ein Auge zu. Der Bundestag hatte seit knapp 50 Jahren immer wieder Nachrücker zugelassen. Deshalb durfte auch der in dem den Streit auslösenden Verfahren vom Bundestag bestimmte Nachrücker tatsächlich nachrücken, obwohl er eigentlich gar nicht gewählt war ...

Varzil glaubt: so ähnlich wird das Gericht auch bei der Vertrauensfrage am Donnerstag oder Freitag entscheiden (/*Kaffeesatzleserei Start*/):
    1. Die Vertrauensfrage ist verfassungswidrig gestellt worden.
    2. Weil es aber der Bundeskanzler und der Bundespräsident sind, die das gemacht haben, lassen wir es ihnen noch mal durchgehen ...(/*Kaffeesatzleserei Ende*/)*

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